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MY COLLEAGUE FROM UKRAINE: Für einen inklusiven Wiederaufbau der Ukraine: Wessen Stimmen werden einbezogen?

19.12.2022 19.12.2022 MAECENATA STIFTUNG Zivilgesellschaft in der öffentlichen Debatte Flucht und Migration Engagement Nothilfe

Im Maecenata-Blog veröffentlichte unsere ukrainische Gastwissenschaftlerin Nataliia Lomonosova zwischen Mai und Dezember 2022 Texte zur Zivilgesellschaft in den osteuropäischen Ländern, insbesondere in der Ukraine. Hier der aktuelle von Dezember. Alle Texte sind auch in ENGLISCH verfügbar.

[Blog 6] MY COLLEAGUE FROM UKRAINE: Für einen inklusiven Wiederaufbau der Ukraine: Wessen Stimmen werden einbezogen?

Seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine sind neun Monate vergangen. Seitdem finden auf dem Territorium der Ukraine heftige Kämpfe zwischen den beiden Armeen statt, Bomben und Raketen fallen auf Häuser, tausende von Menschen sterben bei Angriffen der russischen Truppen auf die zivile Infrastruktur, bei Folter und Verfolgung. Einige Millionen Menschen wurden zwangsweise in das Gebiet der Russischen Föderation deportiert. Millionen weitere sind in die Nachbarländer geflohen und müssen dort die Härte des Lebens als Geflüchtete ertragen. Diejenigen, die in der Ukraine bleiben, leben unter schwierigen Bedingungen, ohne Heizung, Strom und oft ohne Kommunikationsmittel. Russland hat den Kindern in der Ukraine ihr Recht auf eine unversehrte Kindheit genommen und den älteren Menschen die Möglichkeit, friedliche Lebensjahre im Kreise ihrer Familien zu verbringen.

Hinzu kommt, dass extreme Kälte zu erwarten ist. Ich schreibe diesen Blog am ersten Tag des Winters von meiner Übergangswohnung in Berlin aus. In ein paar Tagen werde ich einen Zug besteigen, der mich an die polnisch-ukrainische Grenze bringen wird. Dort werde ich einen anderen Zug nehmen. Dann noch einen. Und dann einen Bus. Schließlich werde ich ein Dorf erreichen, in dem ich meinen dreißigsten Geburtstag feiern will. Zu Hause.

In einem Land, das nur ein paar Flugstunden von Deutschland entfernt ist, leben dieselben Menschen, aber sie haben nur für ein paar Stunden am Tag Licht und Zugang zum Internet. In der übrigen Zeit geht der Beschuss weiter und die ukrainischen Versorgungsbetriebe bemühen sich, die durch den Beschuss beschädigten Stromnetze zu reparieren. Die neue Woche bringt weitere massive Angriffe auf ukrainische Städte, neue Schäden … der Krieg dauert an.

Wann wird der Krieg enden? Wann werden wir gewinnen, und die russische Armee wird unsere Städte und Dörfer für immer verlassen? Das sind die Fragen, die sich jeder Ukrainer und jede Ukrainerin jetzt stellt. Aber es gibt noch eine andere Frage: was wird nach dem Krieg mit uns, mit unserem Staat geschehen? Und wie wird unsere Gesellschaft nach dem Krieg aussehen.

Während auf den Schlachtfeldern über das Schicksal des Staates und unsere Unabhängigkeit entschieden wird, werden gleichzeitig die Strategien für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg und die Wege ihrer sozioökonomischen Entwicklung diskutiert.

So wurde im April durch ein Dekret des ukrainischen Präsidenten der „Nationale Rat für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg“ eingerichtet, ein Beratungsgremium, das dem Präsidenten untersteht. In weniger als drei Monaten hat er den Entwurf eines Wiederaufbauplans für den Zeitraum bis 2032 erstellt. Er besteht aus 23 separaten Plänen, die von den zuständigen Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen ausgearbeitet wurden. Zu den Teilnehmenden der Arbeitsgruppen gehören unter anderem VertreterInnen der Zivilgesellschaft – Nichtregierungsorganisationen (NRO), Think Tanks und einige Aktivistenorganisationen.

In diesen Plänen, die der internationalen Gemeinschaft vorgelegt wurden, wird eine bestimmte strategische Vision dargelegt, wie sich die ukrainische Wirtschaft entwickeln sollte, welches die wichtigsten Grundsätze der Sozial- und Bildungspolitik sein sollten, wie die ukrainischen Städte wieder aufgebaut und entwickelt werden sollten usw. Sie fassen die allgemeine Vision zusammen, wie die TeilnehmerInnen der Räte die bestehenden Probleme sehen (d.h., welche als diejenigen Probleme definiert werden, die der Aufmerksamkeit bedürfen), und schlagen sehr spezifische Wege zur Lösung dieser Probleme vor.

Obwohl diese Pläne als Entwurfspläne bezeichnet werden, wurden bei einigen der darin vorgeschlagenen Maßnahmen bereits mit der Umsetzung begonnen. Die blitzschnelle Entwicklung solcher Visionsdokumente ist (angesichts des Krieges im Lande) wirklich beeindruckend. Auf den ersten Blick auf eine durchaus positive Art und Weise. Als Soziologin und Politik-Analytikerin, die an eine partizipatorische und integrative Entscheidungsfindung glaubt, kann ich jedoch nicht umhin, darüber nachzudenken, wer in den Prozess der Entscheidung über die künftige Entwicklung unseres Landes eingebunden ist und wer von diesem Prozess ausgeschlossen bleibt. Wie inklusiv ist der Prozess der Entwicklung von Konjunkturprogrammen? Inwieweit werden die verschiedenen Stimmen wirklich gehört? Hatten alle zivilen AktivistInnen, die sich an der Entwicklung solcher Pläne beteiligen wollten, wirklich die Möglichkeit dazu? Wird die Stimme derjenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen berücksichtigt, die sich mit lokalen Problemen auf Gemeindeebene befassen? Inwieweit haben AktivistInnen mit anderen Ansichten einen Platz in den Arbeitsgruppen des Nationalrats gefunden?

Sicherlich gibt es bestimmte Bereiche wie Menschenrechte, Korruptionsbekämpfung, verantwortungsvolle Staatsführung und Transparenz der Politikgestaltung, in denen viele, wenn nicht sogar die meisten zivilgesellschaftlichen Akteure eine ähnliche Agenda verfolgen können. Aber wenn wir zum Beispiel sagen (oder lesen), dass die ukrainische Zivilgesellschaft diese oder jene Vision von Reformen unterstützt, was genau meinen wir damit? Bedeutet dies, dass die Zivilgesellschaft ein einheitlicher Akteur ist, der „für alles Gute“ kämpft und dass es eine einheitliche Definition dessen gibt, was gut ist?

Nein, genau das ist sie nämlich nicht, die Zivilgesellschaft ist nicht homogen, sondern vielfältig. Aber ich frage mich auch immer wieder, wie breit die Diskussion über den Wiederaufbau nach dem Krieg sein kann. Offensichtlich schließen sich einige VertreterInnen der Zivilgesellschaft in verschiedenen Koalitionen zusammen, um alternative Wiederaufbaupläne zu entwickeln und die mögliche Rolle der Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau nach dem Krieg und der Integration der Ukraine in die EU zu diskutieren. Einige Gruppen konzentrieren ihre Bemühungen darauf, diese Prozesse transparent und partizipativ zu gestalten, andere kommentieren den Inhalt der in den Wiederaufbauplänen vorgeschlagenen Maßnahmen und schlagen Alternativen dazu vor.

Aber ob es im Moment wirklich viel Raum für eine solche Diskussion gibt und ob es eine reale Möglichkeit für NGOs oder Graswurzelinitiativen aus lokalen Gemeinschaften gibt, an der hochrangigen Diskussion über die Zukunft unseres Landes nach dem Krieg teilzunehmen – das bleibt für mich eine offene Frage. Ich frage mich, inwiefern sie nicht nur in der Lage sind, etwas vorzuschlagen, sondern tatsächlich von den Behörden gehört zu werden. Und wie ein solcher Dialog organisiert werden könnte.

Das rechtliche Regime des Kriegsrechts hat die Offenheit der Entscheidungsfindung erheblich eingeschränkt und die Möglichkeiten der Interessenvertretung und der öffentlichen Kontrolle sind in gewisser Weise geschrumpft. Aber die Ukraine ist eine Demokratie und wir können unsere Meinungsfreiheit auch in Kriegszeiten genießen. Seit März wurden viele Entscheidungen und Maßnahmen, die von den Behörden auf lokaler und nationaler Ebene getroffen (oder nicht getroffen) wurden, von Organisationen der Zivilgesellschaft und AktivistInnen kritisch kommentiert. Da die Möglichkeiten für öffentliche Versammlungen begrenzt sind, sind elektronische Petitionen und ähnliche Maßnahmen des zivilen Aktivismus auf dem Vormarsch.

Es gibt zudem aber auch echte Proteste. Nehmen wir nur die jüngsten Beispiele in der Hauptstadt Kyjiw. Zum Beispiel die öffentliche Kampagne für den Erhalt des größten ukrainischen Filmarchivs Dovzhenko Centre. Die Entscheidung der staatlichen ukrainischen Filmagentur, das Zentrum zu reorganisieren (de facto zu liquidieren) und der systematische Missbrauch der organisatorischen Autonomie der Einrichtung wurden von der kulturellen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft scharf verurteilt. Trotz der Fliegeralarme sind duzende von AktivistInnen zum Protestieren auf die Straße gegangen. Als sich die Situation zuspitzte, richteten sich die Forderungen der NPOs und der KulturaktivistInnen gegen die mangelnde Kompetenz und die allgemeine Ineffizienz der staatlichen Kulturpolitik, die zu dieser Situation geführt hatte. Sie forderten nicht nur den Erhalt des Filmarchivs, sondern auch die Entlassung des Leiters der staatlichen Filmagentur und des Ministers für Kultur und Informationspolitik.

Ein weiteres Beispiel ist eine öffentliche Kampagne zur Rettung eines Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert, dessen vollständiger Abriss angekündigt worden war, nachdem ein Teil des Gebäudes im Oktober durch eine russische Drohne zerstört worden war, wobei mehrere BewohnerInnen ums Leben kamen. Die BewohnerInnen schlossen sich mit städtischen AktivistInnen zusammen, um die Stadtverwaltung davon zu überzeugen, den zerstörten Teil des Hauses zu erhalten und wiederaufzubauen, da das Gebäude einen historischen Wert hat. Die Petition und die öffentliche Ablehnung eines Abrisses haben schnell eine andere Ebene erreicht – es ging nun mehr rum die allgemeine Diskussion über die Angemessenheit der Maßnahmen zum Schutz des kulturellen Erbes und deren Umsetzung. Die laufende Diskussion über die kürzlich von der Regierung vorgeschlagene Stadtplanungsreform ist nicht weniger hitzig und findet in einer kritischen Atmosphäre statt.

Die Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Notunterkünften für die Leute, deren Häuser durch den Beschuss beschädigt wurden, führen unweigerlich zu einer Diskussion über die derzeitige Wohnungspolitik in der Ukraine im Allgemein. Städtische AktivistInnen, die sich mit diesem Thema befassen, plädieren für die Schaffung eines Fonds für den sozialen Wohnungsbau, den es in der Ukraine vor dem Krieg nicht gab.

All diese Diskussionen erreichen schließlich eine eher systemische Ebene: wie sollte die Politik in diesem oder jenem Bereich aussehen. Wollen wir als Gesellschaft, dass sie so ist wie vor dem Krieg? Und was, wenn die Herausforderungen, mit denen wir während des Krieges konfrontiert waren, uns dazu zwingen, etwas zu überdenken? Was ist, wenn die Politik und die Ansätze, die vor dem Krieg angewandt wurden, nicht mehr passen? Ich frage mich, ob es einen Raum gibt, in dem solche konstruktive Kritik geäußert werden kann. Mit anderen Worten: Haben die Akteure der Zivilgesellschaft derzeit wirklich die Möglichkeit, die Wege der sozioökonomischen Entwicklung in Frage zu stellen? Haben sie die Möglichkeit eine grundlegend andere Wohnungspolitik zu fordern, für eine grundlegend andere Entlohnung der Beschäftigten im Bereich der kritischen Infrastrukturen einzutreten, eine umfassende Sozialpolitik zu entwickeln, die es in dem Land vor dem Krieg nicht gab? Ich frage mich, ob wir das Unmögliche fordern können, wenn die UkrainerInnen bereits das Unmögliche tun – gegen die Armee eines Landes kämpfen, das zehnmal größer ist als wir.

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