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Zur Rolle der Zivilgesellschaft in Sachverständigengremien

22.02.2023 22.02.2023 MAECENATA STIFTUNG Zivilgesellschaft in der öffentlichen Debatte Demokratie Politik Wissenschaft und Forschung

Eine Analyse von 223 Sachverständigengremien zeigt eine Unterrepräsentation gemeinwohlorientierter Akteure: Nur knapp 14 Prozent der berufenen ExpertInnen vertreten die Zivilgesellschaft.

OBS-Arbeitspapier 57

Allgemeiner Kontext zur Studie

Die Einschätzungen von ExpertInnen zu bestimmten Sachfragen werden im politischen Prozess in Deutschland immer wichtiger. Die Inanspruchnahme von Beratungen wird damit begründet, dass die Einspeisung von Sachverstand bei komplexen Fachthemen für politische Entscheidungen notwendig sei und sich die Legitimation politischer Entscheidungen durch die Einbeziehung unterschiedlicher Akteure erhöhe. Organisiert wird die Politikberatung meist über Sachverständigengremien. In der Regel arbeiten diese Gremien mit wenig öffentlicher Aufmerksamkeit, ihre Zusammensetzung sowie ihre Empfehlungen sind selten Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Ausnahmen wie der „Deutsche Ethikrat“ – dessen Empfehlungen zur Corona-Politik einige Debatten auslösten – zeigen jedoch, welchen Einfluss ExpertInnen haben können. Daher ist es problematisch, dass bisher keine vollständige Aufstellung aller Beratungsgremien auf Bundesebene oder eine Systematik ihrer Besetzungs- und Verfahrensregeln vorliegt. Es ist unklar, wer dort sitzt, welche Interessen repräsentiert werden – und welche nicht. Die vorliegende Studie analysiert aus diesem Grund die Sachverständigengremien der wissenschaftlichen Politikberatung auf Bundesebene während der 19. Legislaturperiode. Es wird untersucht, mit welchen ExpertInnen die Gremien besetzt sind, wie diese dorthin berufen werden und welche unterschiedlichen Sektoren (Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Politik/Behörden) sie angehören. Ein besonderer Fokus liegt auf den Akteuren der Zivilgesellschaft als VertreterInnen gemeinwohlorientierter Interessen.

Methode

Insgesamt konnten 223 Gremien in einer zweistufigen Text- und Datenanalyse analysiert werden. Zunächst wurden Dokumente zum Thema (zum Beispiel Schriftsätze aus der Mediathek des Deutschen Bundestags) analysiert, die aufgeführten Gremien in eine Datenbank überführt und anschließend über weitere Recherchen auf den Webseiten der Ministerien ergänzt. Dann wurden die Zusammensetzung der Gremien empirisch ausgewertet und ihre Mitglieder kategorisiert. Anschließend erfolgten qualitative Analysen der zentralen Argumentationsmuster und Sprachregelungen zu Auswahlverfahren und Berücksichtigung der Ergebnisse in entsprechenden Veröffentlichungen der Gremien und der zuständigen Ministerien.

Ergebnisse

Die Provenienz der ExpertInnen

Die Auswertungen zeigen, dass die verschiedenen Sektoren unterschiedlich stark repräsentiert werden. Zwar dominieren (wenig überraschend) wissenschaftliche ExpertInnen in den analysierten Gremien (rund ein Drittel der Mitglieder lassen sich diesem Sektor zuordnen, vgl. Abbildung 1). Allerdings lässt sich auch ein fast ebenso hoher Anteil wirtschaftlicher VertreterInnen (ca. 29 Prozent) feststellen. Hinter der Erkenntnisorientierung der Wissenschaft und der Gewinnorientierung der WirtschaftsvertreterInnen ist die Gemeinwohlorientierung, als inhärente Logik der nicht gewinnorientierten Zivilgesellschaft, in den Beratungsgremien der Bundespolitik deutlich weniger präsent. Lediglich rund 14 Prozent der berufenen ExpertInnen vertreten diese Perspektive. Zivilgesellschaftliche Perspektiven kommen damit in den Beratungsgremien der Bundespolitik noch seltener zu Wort als VertreterInnen aus Behörden und Politik – jedeR fünfte ExpertIn ist dieser Gruppe zuzuordnen. Andere ExpertInnen (beispielsweise einzelne BürgerInnen und MedienvertreterInnen) sind mit weniger als fünf Prozent kaum beteiligt.

Die Einbindung der Sektoren nach Ministerien

Unterscheidet man die Beratungsgremien nach Ministerien, zeigen sich große Unterschiede, bereits ihre Anzahl pro Ministerium variiert erheblich. Mit 73 entfielen die meisten auf das Bundesministerium für Gesundheit, am wenigsten Gremien (2) unterhielt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Insgesamt ist festzustellen, dass die Gremien der Ministerien oft einen deutlichen Überhang an AkteurInnen eines Sektors aufweisen. Meist ist dies thematisch bedingt und sinnvoll (bspw. eine hohe Präsenz der WirtschaftvertreterInnen im Finanzministerium). Immer wieder zeigen sich in der Analyse aber auch erklärungsbedürftige Befunde und das Aussparen ganzer Sektoren, was einer multiperspektivischen Beratung entgegensteht. Auch die Einbindung zivilgesellschaftlicher ExpertInnen variiert zwischen den einzelnen Politikressorts erheblich. Eine gute Einbindung ist bei den für die Zivilgesellschaft ‚klassischen‘ Themenfeldern zu sehen, etwa in der Wohlfahrts-, Familien- oder Entwicklungspolitik. Sehr leise ist die Stimme der zivilgesellschaftlichen Belange hingegen in den Gremien der Finanz-, Wirtschafts- und Justizministerien.

Wer repräsentiert die Zivilgesellschaft?

Die zivilgesellschaftlichen ExpertInnen in den Gremien arbeiten am häufigsten in den Themenbereichen der Menschen- und Bürgerrechte (29 Prozent), sowie der Verbraucher- (14 Prozent) und Umwelt-, Natur- und Tierschutzthemen sowie im Bereich der Selbsthilfebelange (jeweils elf Prozent). Akteure aus Bildung und Erziehung sowie Sport, Kunst und Kultur kommen hingegen kaum vor. Organisatorisch wird die Zivilgesellschaft meist durch Großorganisationen (Kirchen, Wohlfahrts- und Naturschutzverbände sowie Gewerkschaften) vertreten. Insgesamt ist die Diversität der Organisationen gering; es scheint eine Mentalität der ‚üblichen Verdächtigen‘ vorzuherrschen. Dies zeigt ein fehlendes Verständnis für die Vielfältigkeit der Zivilgesellschaft vonseiten der einberufenden Politik.

Uneinheitliche Auswahl, fehlende Transparenz

Neben der Besetzung der Gremien müssen auch die Besetzungsverfahren und die Evaluation der Gremienarbeit kritisch gesehen werden. Es gibt kaum offizielle Verfahrensweisen, die Kriterien nach welchen die Sachverständigen berufen oder ihre Empfehlungen (nicht) berücksichtigt werden, sind kaum definiert und damit nicht überprüfbar. Zwar wird „Verbänden“ oftmals eine besondere Rolle zuerkannt (bspw. in gesetzlichen Vorgaben und Geschäftsordnungen), der Verbandsbegriff ist rechtlich und wissenschaftlich jedoch nicht klar definiert. Zusätzlich gibt es zwischen den Ministerien erhebliche Unterschiede, was die Transparenz der Beratungsarbeit angeht. Häufig war es trotz aufwendiger Eigenrecherchen nicht möglich, Informationen über die Gremien und ihre Mitglieder zu gewinnen.

Fazit

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Zusammensetzung der Beratungsgremien der Bundespolitik wenig transparent und über weite Teile unausgewogen ist. Um dem entgegenzuwirken sollten zukünftig die Verfahren zur Berufung von externen Sachverständigen in den Bundesgremien offengelegt werden. Auch müssten eine angemessene Repräsentation der verschiedenen Sektoren, der durch sie vertretenen Erkenntnis-, Profit- und Gemeinwohlorientierung sowie ihrer thematischen und organisationalen ‚inneren‘ Vielfalt als eigenständige Kriterien gelten. Darüber hinaus sollte der Eingang von Expertise durch Sachverständigengremien im legislativen Fußabdruck von Gesetzen dargestellt werden.

Über die Autorinnen

Dr. Siri Hummel ist Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Foto: Marianne Sievers

Laura Pfirter ist Sozialwissenschaftlerin und freie Mitarbeiterin am Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Foto: Sonja Hövelmann

Impressum

Herausgeber und Redaktion:

Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, Wilhelm-­Leuschner-Straße 79, 60329 Frankfurt am Main, Tel.: 069-6693-2810, E-Mail: info@otto-­brenner-stiftung.de, www.otto-brenner-­stiftung.de

Veröffentlicht unter CC BY-NC-SA 4.0-Lizenz.

Mehr Infos sowie die Langfassung der Studie finden Sie auf unserer Website: www.otto-brenner-­stiftung.de

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